Hegel: Vom absoluten Wissen

Hegel: Vom absoluten Wissen
Hegel: Vom absoluten Wissen
 
»Nirgends kann genauer gesehen werden, was ein großer Gedanke im Aufgang ist, und nirgends ist sein Lauf bereits vollständiger«, so kommentierte Ernst Bloch bewundernd und kritisch zugleich den Gesamtentwurf der Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels. Die Bedeutung des Werkes und seiner Teile für die Entwicklung der Philosophie und der Wissenschaften ist nach wie vor umstritten. Heftige Auseinandersetzungen darüber begannen, wenn nicht schon zu Hegels Lebzeiten, so doch unmittelbar nach seinem Tode.
 
»Zurück zu Kant!« lautet ein Schlachtruf der Hegelkritiker, der immer wieder ertönt. Einen Ansatzpunkt für fortdauernde Kontroversen bildet Hegels hoher philosophischer Anspruch, die »Lehre vom absoluten Wissen« im Rahmen eines einheitlichen kategorialen Systems zu entfalten, dessen einzelne Glieder (Naturphilosophie, Geistphilosophie und Logik) vollständig miteinander vermittelt sind. Kritiker, die den Systemgedanken Hegels ablehnen, verwerfen oftmals pauschal die gesamte Philosophie, ohne zu bemerken, wie sehr Hegel gerade auch in Einzelfragen die Geschichte des Denkens geprägt hat. Ihnen stehen unermüdliche hegelgetreue Interpreten gegenüber, die sich beflissentlich bemühen, die verschlungenen Sprachkonstruktionen Hegels zu paraphrasieren, ohne jedoch der Aktualität seiner Philosophie gebührenden Ausdruck zu verleihen.
 
Einig ist sich die Nachwelt in der Beurteilung, dass Hegels Philosophie den deutschen Idealismus, ausgehend von Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Heinrich Jacobi, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher und Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, vollendet hat. Wie schon in der Philosophie der Aufklärung, insbesondere der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants, ging es im deutschen Idealismus darum, auf dem Gebiet der Philosophie Kategorien der Subjektivität und der Freiheit zu entwickeln, die zu einem modernen Verständnis des Menschen und seiner Verhältnisse führen. Während Kant jedoch in der »Kritik der reinen Vernunft« (1781) lediglich die Idee eines spontanen, die Einheit von Erfahrung und Erkenntnis ermöglichenden Ichs postulierte, ist das »Selbstbewusstsein« im deutschen Idealismus zu einer zentralen Kategorie avanciert, mit der die schöpferische Potenz des menschlichen Handelns und Denkens nun als »Freiheit« erfasst wird.
 
In Abkehr von der Überzeugung der antiken Philosophie, dass das wahre Sein in objektiv vorgegebenen und zeitlos gültigen Strukturen des Denkens und des Seins besteht, verfolgt der deutsche Idealismus mit der Frage nach der Subjektivität, dem selbstständigen Ich, die entgegengesetzte, zuerst von René Descartes eingeschlagene Richtung der neuzeitlichen Philosophie. Mit dem Selbstbewusstsein war ein neues Prinzip der Einheit von Sein und Denken entdeckt worden, welches - losgelöst (absolut) von äußeren Bedingungen (unbedingt) - von der Selbsterkenntnis bestimmt wird. Auch Hegel ging davon aus, dass mit dem Begriff des Selbstbewusstseins eine Kategorie zum Tragen gekommen ist, die sich fortan als unverzichtbare Voraussetzung zum Verständnis des Menschen erweisen wird. Er kritisierte jedoch die Verabsolutierung des Begriffs Selbstbewusstsein - beispielsweise bei Fichte - als ein unmittelbar gegebenes und mit sich identischem Bewusstsein nach der Formel »Ich = Ich«, da, so Hegel, der Begriff eines solchen »leeren« Selbstbewusstseins nicht dazu beitrage, Fragen nach dem Bezug des Ichs zur Welt, zu einem anderen Ich oder zur Vernunft zu beantworten.
 
Vor allem Hegels Polemik gegen die romantische Deutung des Subjekts, welche sich vor allem durch Weltflucht, Idealisierung der Vergangenheit und ästhetische Stilisierung auszeichnet, und nicht durch Aufklärung, Erfahrung und Auseinandersetzung in und mit der Welt, macht seine Position klar. Damit verwirke diese »kraftlose Schönheit«, Hegels Bild für das romantische Subjekt, die Chance, die eigene Geschichte und Gegenwart zu verstehen und neue Erfahrungen zu machen. Der kleine, aber folgenreiche Schritt, mit dem Hegel über die Transzendentalphilosophie und die romantische Philosophie hinausging, bestand darin, den Begriff des Selbstbewusstseins nicht nur als unmittelbar aufgefundene, sondern auch als logisch-systematische sowie geistesgeschichtlich und realgeschichtlich »vermittelte« Idee aufzufassen oder - wie wir in heutiger Terminologie formulieren würden - als spezifische, genetisch zu rekonstruierende Entwicklungslogik. Damit denkt Hegel einer Verabsolutierung von Prinzipien entgegen, ohne dem Relativismus anheim zu fallen. Dieses Anliegen kann jedoch mit den methodischen Mitteln der klassischen Philosophie, die die metaphysische Fundierung höchster Prinzipien streng von den Vorschriften der formalen Logik trennte, nicht gelingen. Hegels Resultat ist eine neue kritisch-synthetische Methode, eine verzweigte Dialektik der begrifflichen Übergänge, der Vermittlungen und Wechselbeziehungen.
 
Insbesondere in der »Phänomenologie des Geistes« (1807), in der Hegel die Wissenschaft von der individuellen Erfahrung des Bewusstseins vorträgt, wird deutlich, worauf es ihm bei dem Verhältnis von Selbstbewusstsein und absolutem Wissen ankommt: Das Wahre soll nicht nur als Substanz (der Begriff der Tradition), es soll ebenso sehr als Subjekt (der Begriff des deutschen Idealismus) aufgefasst werden. Die Wahrheit oder das Absolute wird erreicht, wenn Begriff und Gegenstand »an und für sich« übereinstimmen, das heißt, wenn das Bewusstsein sich selbst als Erfahrungsinhalt erkennt. Das Selbstbewusstsein durchläuft dabei eine »Bildungsgeschichte« über Stufen der Entzweiung, der Entfremdung und der Vergegenständlichung - eine Bewegung, die durch die begleitende Reflexion des Lesers vollzogen wird, in der dieser sich über sein Bewusstsein aufklärt.
 
Dabei gelten vor allem »Religion« und »Kunst« für Hegel als besondere Erscheinungsformen des Geistes, da sie bereits einen absoluten Inhalt zur Offenbarung und zur Anschauung bringen. Die systematisch und methodisch als Wissenschaft auftretende »Philosophie« fällt für Hegel dann mit dem absoluten Wissen zusammen, da sie im Medium des Begreifens die je eigenen Schranken von Religion (Glaube) und Kunst (Schönheitssinn) überwindet und das Denken bei sich selbst ist. Dieses Denken bezeichnet Hegel als »Begriff«. Dieser Begriff, das zeigt Hegels weiteres Hauptwerk »Wissenschaft der Logik« (1812), besteht allerdings weder in einer einzigen Definition noch im Postulat eines obersten Prinzips. Hegel fasst diesen Begriff dagegen als »Negativität«, als schöpferische Kraft, die - selbst absolut - im Prozess der Selbstreflexion der grundlegenden Kategorien des Denkens jeder Verabsolutierung einzelner Bestimmungen kritisch entgegendenkt.
 
Zur Besonderheit des Hegelschen Systems gehört, dass der Philosophie des subjektiven Geistes eine Philosophie des objektiven Geistes entspricht, in welcher Hegel die »Grundlinien der Philosophie des Rechts« (1821) skizziert. Hegel bestimmt hier das normative Wesen eines modernen Rechts- und Staatsbegriffs, in welchem »die Freiheit zu ihrem höchsten Recht« kommt. Familie, die bürgerlichen Gesellschaft, der »Not- und Verstandesstaat«, das Recht des Staates und die Weltgeschichte werden als dessen Gliederungen unterschieden und voneinander abgegrenzt. In der berühmten »Vorrede« zur Rechtsphilosophie findet sich ein vielzitierter Satz, dessen Auslegung bis zum heutigen Tag strittig ist: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.« Zum Verständnis dieses Satzes ist es wichtig zu wissen, dass der in Stuttgart geborene Hegel zusammen mit seinen Freunden Isaak von Sinclair, Hölderlin und Schelling schon während des Studiums an der Universität Tübingen (1788-1793) dem Geist der Freiheit huldigte, der von der Französischen Revolution ausging. Später, bei der Abfassung der »Phänomenologie«, sah er den Hoffnungsträger Napoleon I., der auf seinem Eroberungsfeldzug 1806 Jena einnahm: die »Weltseele« - »auf einem Pferde sitzend«. Hegel reflektierte aber auch die Erfahrungen der Französischen Revolution. Der Umsturz der alten Ordnung und die Deregulierung des Staates hatten hier zu einer zügellosen, die Freiheitsrechte des Individuums missachtenden Tyrannei geführt. Hegel schloss daraus, dass die Freiheit des Menschen nur im Staat durch eine auf das Recht gegründete Ordnung gewährleistet werden kann.
 
Nach Tätigkeiten als Hauslehrer in Bern und Frankfurt am Main, als Privatdozent in Jena, Redakteur in Bamberg, Gymnasiallehrer in Nürnberg und für kurze Zeit als Philosophieprofessor an der Universität Heidelberg trat Hegel 1818 die Nachfolge Fichtes in Berlin an. Zu dieser Zeit waren die durch Stein, Gneisenau, Hardenberg und Humboldt eingeleiteten Reformen, die Preußen zu einem modernen, fortschrittlichen Staat werden ließen, bereits durch die Bestrebungen der Restauration bedroht. Die akademische Freiheit in Forschung und Lehre, ein zentrales Anliegen des liberalen Bürgertums, prägte zwar weiterhin das Klima an der Universität, zugleich aber verstärkte sich der Druck der Obrigkeit auf den immer prominenter werdenden Philosophen, seinen Dienst als preußischer Staatsphilosoph loyal zu verpflichten.
 
Nach Hegels Tod begann der Streit zwischen den Jung- und Linkshegelianern wie Arnold Ruge, Ludwig Feuerbach und Karl Marx auf der einen und den Alt- und Rechtshegelianern auf der anderen Seite. Hierzu gehörten (neben vielen vergessenen Philosophen) unter anderem Johann Eduard Erdmann und Heinrich Bernhard Oppenheim sowie vor allem die Herausgeber seiner Werke (Philipp Konrad Marheineke, Karl Gustav MicheletHeinrich Gustav Hotho). Diese Parteien stritten vornehmlich darüber, ob Hegel zu seiner Zeit die Vernunft bereits als verwirklicht angenommen hatte oder deren Realisierung noch erhoffte; ob seine Philosophie den Entwurf für eine der geschichtlichen Praxis aufgegebene Befreiung aus der alten Herrschaftsordnung darstellte oder er die erzielte historische Gegenwart mit ihren Institutionen (lediglich) auf den Begriff gebracht hatte.
 
Hegel selbst hatte eine Philosophie der Freiheit schreiben wollen und die komplizierten Zusammenhänge aufgezeigt, unter denen sich Freiheit realisiert. Das Bewusstwerden dieser Freiheit als Selbstbewusstsein prägte seine Philosophie. Die Geschichte des Begriffs »Freiheit«, die von Hegel nicht unabhängig von der Real- und Weltgeschichte gedacht wurde, kommt damit für ihn zu einem Ende. Seine Philosophie ist ein nicht mehr wiederholbarer Ausdruck des Selbstbewusstseins seiner Zeit. Die nachfolgenden Philosophen knüpften neu daran an. Im strengen Sinne kann nicht davon gesprochen werden, dass Hegel eine Schule gegründet hat. Der bekannteste »Hegelianer«, Karl Marx, der so kenntnisreich über ökonomische Prozesse geschrieben hat und sich dabei in Kategorienwahl und Methodik häufig auf Hegel berief, wollte ihn »vom Kopf auf die Füße stellen«. Gerade darin, dass er die von Hegel behandelten Begriffe der Freiheit als scheinhafte »Überbauphänomene« denunzierte, gab sich Marx als Apologet eines totalitären, auf die Beherrschung des Individuums zielenden Denkens zu erkennen. Auch wenn das Gesamtwerk Hegels keine Schule begründete, so ist es doch wie ein gewaltiger Steinbruch edelsten Gesteins von nachfolgenden Geschichts- und Kulturphilosophen, Staats- und Rechtstheoretikern, Pädagogen und Psychologen, Historikern und Soziologen, Methodologen und Anthropologen abgetragen und ausgeschlachtet worden.
 
Prof. Dr. Christiane Bender
 
 
Gamm, Gerhard: Der deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling. Stuttgart 1997.
 
Geschichte der Philosophie im 19. Jahrhundert. Positivismus, Linkshegelianismus, Existenzphilosophie, Neukantianismus, Lebensphilosophie, herausgegeben von Ferdinand Fellmann. Reinbek 1996.
 Röd, Wolfgang: Der Weg der Philosophie von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Band 2: 17. bis 20. Jahrhundert. München 1996.

Universal-Lexikon. 2012.

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